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Gespräche zu Stücken
Micha Purucker: 100.80.40 - rats in the living room / études pathétiques



Pier Paolo Pasolini, Derek Jarman, Rainer Werner Fassbinder, es sind drei Filmemacher, die die Koordinaten deiner neuen Arbeit bestimmen. In einem Interview mit Katja Schneider hast Du, neben anderen Künstlern, diese drei als Referenzen für eine bestimmte Art von In-der-Welt-Sein genannt…

Alle drei sind lebenslang neugierig geblieben, haben Schranken übersprungen, haben Anteil genommen, sich engagiert und exponiert. Zu ihrer Lebzeit haben sie dafür schwer was auf die Mütze gekriegt, wovon sie sich aber nicht haben beirren lassen. Sie waren konsequent in ihrer Haltung wie in ihrer Kunst: unbestechlich und nicht korrumpierbar, getragen von einem jeweils besonderen…. ja, Humanismus: den Menschen zugewandt.

Du bist ein leidenschaftlicher Cineast und hast in Deiner Anfangszeit als Choreograf selbst mal einen 40-Minuten Film gedreht, der glaube ich sogar auf drei Filmfestivals eingeladen wurde. Film und Tanz was geben sich diese Künste?

Es gab auch später noch viele Filme! Film lebt von der Bewegung der Kamera, der Akteure; Tanz IST Bewegung. Ich glaube, dass diese beiden Bereiche rezeptionsästhetisch mehr miteinander zu tun haben als Tanz und Theater, sofern das weiterhin mehrheitlich und aus der Tradition heraus textbasiert ist. Bühnentanz und Film erschließen sich in der Anschauung; es geht um verkörperte Wahrnehmung, um Resonanz – um Dinge, bevor man Begriffe dafür hat…

Abgesehen von der medialen und Genre-Komponente die Übersetzung anderer Künstlerpersönlichkeiten durch einen Künstler – du machst das ja nicht zum ersten Mal, Du hast ja bereits Werke über u.a. Bacon (2008, "7 reece mews, London", Giacometti (2009 "echoes – 18 gestures in space"), Genet und Bowie (2018 "dark angels") gemacht – was reizt dich daran bzw. wie gehst Du so eine Annäherung an?

Interessant finde ich, Referenzen, Bezüge zu haben, die nicht textlich erschlossen werden, sondern implizit vorhanden sind, aber benannt werden können. Es gibt einen grossen ‚Fundus‘
von Bekanntem, Gesehenem, Geahntem, auf dem transmediale Arbeit ‚aufsitzt‘, ja den sie voraussetzt. So entstehen Vergleichbarkeiten , aber vor allem artikulieren sich die Unterschiede der einzelnen Medien: Film, Bild, Musik,
Skulptur, Tanz – und natürlich auch die Unterschiede in den Herangehensweisen und individuellen Vorlieben, Prägungen, Themen etc.

Die Annäherungen sind natürlich nicht akademisch und vollständig; man kann das vielleicht als empathisch und nachempfindend beschreiben, auch wenn viel und beinharte Recherche vorausgeht und natürlich einfließt. Es ist ein Tasten
in eine andere Welt...

Du sagst ja ganz klar, dass man vergeblich konkrete Parallelen zu den Kunstwerken oder Biographien der Künstler suchen wird, vielmehr geht es Dir um etwas Gemeinsames der drei, das du zu sehen meinst: eine bestimmte Empfindsamkeit, eine besondere Ästhetik,
den Umgang miteinander, die Vorliebe für bestimmte künstlerische Mittel. Wenn ich das recht verstanden habe, wäre u.a. das ‚Melodram‘ eine verbindende Konstante und du hast ja auch im Titel stehen "études pathétiques".


Melodrama ist eine populäre Darstellungsform für Konflikte von arm/reich, gut/böse, jung/alt usw., die das Affektive, Leidenschaftliche sucht und Rührendes nicht scheut. Die besondere Theatralität erspielt es sich zwischen Künstlichkeit und Authentizität, und ich denke, das findet sich als Element bei allen wie auch ein ausgeprägtes Formbewusstsein, das Pastiche, der Mix unterschiedlicher Zeitebenen und Elemente.

Alle drei Künstler sind auch ikonische Figuren der LGBTQ-Community, ist das für Dich beim ‚auf die Bühne bringen‘ relevant?

Nein, ganz und gar nicht. Denn auch als Ikonen der Community bleibt ihr Blick der Blick von Außenseitern. Ein Blick von der Peripherie der Gesellschaft, selbst wenn er das Zentrum fokussiert oder vom Zentrum mit Preisen ausgezeichnet wird. Das macht diese Arbeiten ja so interessant, deshalb sehen und zeigen sie anderes und anders, als es die Mehrheitsgesellschaft gewöhnt ist und schätzt. Als Angehöriger einer Minderheit bleibt man allenfalls provisorisch integriert, wurscht, was die Community feiert.

Und zuletzt Dein Titel – das Zahlenrätsel 100.80.40 hast Du ja schon erklärt - Pier Paolo Pasolini wäre 2022 hundert Jahre alt geworden, Derek Jarman achtzig und Rainer Werner Fassbinder ist nun vierzig Jahre tot – aber "rats in the living room" was sagt und das bzw. wo kommt das her?

Die Ratte ist ja quasi ein Haustier, wenn auch ein wenig gelittenes. Sie gilt als Kulturfolger, ist unter den Menschen, überall. Wir halten sie in unseren Laboren für Experimente, im Wohnzimmer möchte wir sie nicht haben und man klemmt ihr auch keine Spängchen ins Haar. Sie ist schlau, frisst alles, ein ausdauerndes Nagetier ….






"100.80.40 - rats in the living room / études pathétiques" findet am 12., 13. und 15. Januar 2023 im schwere reiter statt: INFO

Mehr zu Micha Purucker: Website Micha Purucker

Das Interview führte Simone Lutz, Dezember 2022


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