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Mehr erfahren zu Tanz in München! Im TTmag sprechen Tanzschaffende über Ihre Ästhetik und Herangehensweise, werden Tanzformate und Münchner Tanzthemen unter die Lupe genommen!
 

Gespräche zu Stücken
Diego Tortelli + Miria Wurm:
God's Formula



Ihr arbeitet seit 2018 als Tortelli & Wurm zusammen – wie kam es dazu?

Miria: Diego und ich kennen uns schon seit fast zehn Jahren über unsere gemeinsame Arbeit für Richard Siegal, für den Diego als Tänzer und Ballettmeister und ich als Produktionsleiterin viele Jahre gearbeitet haben, und natürlich haben wir uns da schon immer viel über unsere eigenen Blickwinkel auf Kunst, das Leben etc. ausgetauscht und nach und nach bemerkt, dass wir Dinge oft zwar aus extrem unterschiedlichen Perspektiven betrachten, aber im Kern uns sehr ähnliche Dinge interessieren und wir beide unsere ganz eigene Mischung aus Klarheit und System und dem gleichzeitigem Bruch damit lieben, indem wir z.B. eigene Erinnerungen einflechten. 2018 war dann irgendwie die Zeit reif und wir hatten beide den Drang aus unseren gewohnten Rollen herauszutreten, um uns selbst auszuprobieren und uns auf unsere eigenen Ideen und damit verbundenen Ziele zu konzentrieren

Könnt ihr kurz schildern, wie Eure Zusammenarbeit abläuft?

Miria: Das ist eigentlich jedes Mal sehr abhängig vom eigentlichen Projekt, wie wir das gestalten, da das Thema an sich den Prozess hierfür unbewusst oder aber ganz bewusst mitgestaltet. Wir mögen es auch da schon wie Spielsysteme zu nutzen, indem zum Beispiel Diego und ich uns die gleiche Fragestellung geben und wir hierzu unterschiedliche Lösungsansätze und Herangehensweisen suchen, die wir uns dann gegenseitig pitchen, miteinander verbinden und dann mit diesem System weiter und weiter arbeiten. Bei anderen Stücken wie bei "Fo:No" oder jetzt GOD’s FORMULA schreibt einer von uns beiden einen Konzeptentwurf, weil ihn das Thema beschäftigt und stellt es dann dem anderen vor, bevor wir dann gemeinsam daran anfangen zu arbeiten und uns da Gebiete aufteilen. Wir halten das sehr fluide und es ist mehr ein ständiger Austausch zwischen uns beiden, indem wir uns Sachen schicken und darüber sprechen, die wir gerade spannend finden und das zieht sich dann durch die komplette Arbeit. Es ist eher ein ständiges Einweben, Destillieren und Reduzieren und Neuverknüpfen mit einem zweigeteilten Flow von uns hierzu, einem intuitiven und einem sehr rationalem. Die einzige Basiskonstante, die wir haben, ist, er ist für die Choreografie zuständig und ich für die Produktion, alles andere ist eine immer neuverwobene Teamarbeit.

Technik und wissenschaftliche Theorien in die Arbeiten einzubeziehen und/oder sie als Inspirationspunkt zu nutzen sind von Anfang an eine Konstante bei euren Projekten – was reizt Euch an diesen doch mehr als komplexen Ausgangsfragestellung?

Miria: Das Aufbrechen von Komplexität denke ich. Es gibt eigentlich wenig, was mich grundsätzlich nicht interessiert bzw. manchmal ist es eigentlich auch nicht das Thema an sich, was ich spannend finde, sondern die Systeme und Denkstrukturen dahinter. Und das geht uns beiden sehr ähnlich, es ist nicht die Suche danach, was wir aus der Wissenschaft miteinbeziehen können und da gerade Thema ist, sondern einfach die Faszination für einzelne Kleinigkeiten oder auch die Geschichten um eine historische Innovation zum Beispiel. Dabei ist es erstmal egal aus welchem Gebiet der Wissenschaft sie kommen, da ja auch die Wissenschaften in sich und Technik immer aus sehr unterschiedliche Perspektiven betrachtet werden können und das gibt dem dann auch sehr unterschiedliche Anstriche, je nachdem welche davon wir wählen. Deshalb würde ich sagen, es kann eine Inspiration sein aber ist nicht zwingend der Ausgangspunkt, ein Tool für die Recherche aber hundertprozentig, ganz einfach weil uns unsere beiden Blickpunkte auf die Dinge, dann doch etwas begrenzt erscheinen und wir gerne in andere „Gehirne“, Denksysteme und -welten einsteigen.

GOD’s FORMULA treibt diese Komplexität quasi auf die Spitze, das Stück hat als Inspirationspunkt u.a. die Stringtheorie und geht auf die Suche nach mehr Verständnis für das Universum – wie bringt man das in den Tanz?

Diego: Was mich an diesem Thema fasziniert, ist mit Sicherheit die Idee der ständigen Bewegung. Oft ist meine Arbeit von einer Informationsflut geprägt, die ihre verschiedenen Layer im Klang, der Form, dem Lichtdesign und parallel laufenden Dramaturgien findet. Das zeigt sich natürlich auch sehr deutlich in der Art und Weise, wie der Körper meiner Tänzer die Bewegung angeht. In diesem Stück entwickeln wir diese Idee der konstanten Bewegung sozusagen durch eine stete Geburt bzw. den Tod der Bewegung, aber extrem verbunden wie eine kreisförmige Kette, in der der Anfang auch das Ende ist, oder besser gesagt ein ständiger Neubeginn. Manchmal widersprüchlich im Körper und ein anderes Mal einfach wie Echos von dem, was es vorher war und was es sein wird. Formeln, die sich verbinden, und selbst wenn diese unterschiedlich sind, finden sie einen gemeinsamen Punkt in der ständigen Entwicklung, die sie im Körper haben, indem sie Probleme schaffen und lösen – Anziehen und Abstoßen. Zudem haben wir viel mit der Idee der Schwerkraft gearbeitet und damit, wie wir mit unserem Gewicht und dem Gefühl dafür spielen können, was rechts und links, oben und unten ist. Wir haben versucht, die kreisförmige und in sich selbstdrehenden Flugbahn der Planeten zu reproduzieren, die in der Dunkelheit schweben und ihrem klaren Weg im Raum folgen. Dieses Konzept macht die Körper der Tänzer in dieser Arbeit zu Gebilden und führte etwas Neues in meine Arbeit ein, nämlich die Idee des auf dem Kopf stehenden Körpers, die meinen üblichen Ansatz in Bezug auf den Raum auf eine neue Ebene bringt.

Diego, deine choreografische Technik nennst Du Tetris Technik – kannst Du das kurz erklären?

Diego: Ich würde es nicht als Technik bezeichnen sondern eher als Werkzeug, mit dem man den Körper komponieren und Bewegungen erzeugen kann. Für mich sind die Gelenke wie Scharniere, die von anderen Teilen des Körpers manipuliert werden können wie beim TETRIS-Spiel. Indem der Körper in kleine Fragmente zerlegt wird, bietet sich uns die Möglichkeit, immer wieder neue Formen zu schaffen, die in der Begegnung mit anderen das perfekte Ineinandergreifen finden. Es handelt sich also um ein abstraktes Werk, das mit der Geometrie verbunden ist, aber gleichzeitig eine emotionale Poesie verbirgt, weil es sich persönlich an den Körper der Darsteller, an ihre Möglichkeiten und kreativen Fähigkeiten anpasst. Wie bei dem Spiel TETRIS aus den 80er Jahren tauchen die Formen immer wieder überraschend auf, und wir versuchen, sie ständig mit einer bereits vorhandenen Form in Einklang zu bringen; dieses Spiel schafft ständig Probleme und kann nicht perfekt gespielt werden. In dieser Unvollkommenheit liegt die Schönheit der Vielfalt der Proportionen, und natürlich sind auch die Persönlichkeiten der Darsteller und die Entscheidungen, die sie während des schnellen Kompositionsprozesses treffen, ein wichtiger Bestandteil des Spiels.

Zuletzt habt ihr bei der Biennale Danza in Venedig eine Uraufführung gezeigt und Du, Diego, hast lange mit und für das Aterballetto gearbeitet – was sind die größten Unterschiede in der Rezeption in Italien und Deutschland oder gibt es gar keine?

Diego: Ich glaube, dass die Rezeption meiner Arbeit in den beiden Ländern nicht wirklich durch den kulturellen Hintergrund des Landes selbst bestimmt wird, sondern vor allem durch die unterschiedliche Art der Arbeit, die ich in München mit Miria mache oder die Auftragsarbeiten für Aterballetto. Das Ziel ist ein anderes. Gemeinsam ist den Arbeiten eine klare Ästhetik und eine Art, den Körper zu benutzen, aber das Thema der Kreation, die Herangehensweise an den Prozess, die Recherche ist wirklich unterschiedlich. Jedes Mal, wenn ich gebeten werde, ein Werk für eine Kompanie zu kreieren, ist es für mich sehr klar, dass ich ein Gast in einer Institution bin, die eine Geschichte hat; die Leiter der Kompanien wählen Choreografen aus, die diese bereichern können, aber nicht im Widerspruch hierzu stehen. Aterballetto ist ein Tourneetheater und tritt hauptsächlich an großen Theatern auf, und diese Tatsachen definieren bereits die Art der Kreation, die sie in ihrem Repertoire benötigen. Daher konzentriere ich mich hierbei auf Körpersprache, Schönheit, Klarheit, Raffinesse, emotionale Verbindung, Leichtigkeit, Frontalansicht und Unterhaltung. Was Miria und ich in München miteinander aufbauen, ist eine Spielwiese, auf der wir Entscheidungen treffen können, die von Konzepten, von Geschichte, von tiefgreifenden Recherchen geleitet werden und die zunächst von einer starken dramaturgischen Forschung ausgehen und erst danach zu einem Stück werden. Auch der Blickwinkel des Publikums ist ein anderer. Bei Auftragsarbeiten ist alles frontaler, weil die bestehende Wand zwischen Bühne und Sitzplätzen durchbrochen werden muss, aber Miria und ich sind vor allem daran interessiert, das Publikum in die Welt, die wir erschaffen, hineinzuholen, wo es jedes kleine Detail aus der Nähe sehen kann, aber dennoch die Darsteller und das Publikum während einer Aufführung in ihren eigenen Rollen bleiben. Deshalb haben wir uns meistens für ein unkonventionelles Bühnensetting entschieden und unsere Stücke haben oft etwas Theatrales, in Anklängen etwas Installatives.

GOD’s FORMULA wird im kommenden Jahr auch als Online-Version realisiert – das habt ihr ich glaube pandemiebedingt schon mal mit SNOW CRASH gemacht und bei HOLE IN SPACE lief der Arbeitsprozess rein digital ab – wo seht ihr, als bekennende Live-Akteure, den Sinn dieses Unterfangens?

Diego: Ich finde das Medium Video extrem faszinierend und es gibt mir einen ganz anderen Blickwinkel auf eine Live-Performance. Mit der Kamera kann ich den Blick des Publikums dorthin lenken, wo ich ihn hinlenken möchte, indem ich noch mehr Details aus dem Werk heraushole. Das ist eine ganz andere Verbindung als bei einer Live-Show, kann aber gleichzeitig berührend und extrem kraftvoll sein. Video ist erstaunlich, weil der Fokus der Darsteller jeden einzelnen Zuschauer berühren kann, es wird mehr zu einer privaten Beziehung zwischen Zuschauer und Darsteller, während das Theater-Setup eher eine gemeinsame Erfahrung ist. Ich finde es immer spannend zu sehen, wie eine Live-Show in eine digitale Version übersetzt wird. Irgendwie lernt man immer wieder etwas über das Werk, und auch wenn die beiden Möglichkeiten getrennt voneinander existieren, können sie sich gegenseitig ergänzen und ermöglichen es uns, immer wieder etwas über das präsentierte Werk zu lernen.


"God’s Formula" findet am 21.+22. Obktober 2022 im schwere reiter statt: INFO

Mehr zu Diego Tortelli und Miria Wurm: Tortelli + Wurm

Das Interview führte Simone Lutz, Oktober 2022


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