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Gespräche zu Stücken
Micha Purucker: episodes of glam + gutter



In dem jüngst erschienenen Band zum living archive „HOUSING THE TEMPORARY“, schreibst du, dass der Tanz eine Produktionstiefe hätte, die es verdiene, anerkannt zu werden.

Ich meinte damit, dass auch im Medium Tanz, bei Choreographie Überlegungen angestellt, eine Vielzahl von Entscheidungen getroffen, Ansätze verfolgt oder verworfen werden, man es aber anders als in der bildenden Kunst, in der Literatur, in der Musik, im Film, beim „Endprodukt“ in seiner – ich sage es mal so - „tänzerischen Süffigkeit“ kaum mehr vergegenwärtigt. In meinen Augen ist das gut – aber deswegen davon auszugehen, dass nur „Konzept.tanz“ ein Konzept hätte, ist ebenso unverschämt wie falsch.

Deine aktuelle Produktion „episodes of glam + gutter“ widmet sich den eigenen Erinnerungsprozessen. Könntest du dazu etwas mehr sagen? Wie gehst du vor?

Ich habe versucht, mir zu vergegenwärtigen, welche Sachen - es sind dann doch hauptsächlich künstlerische Sachen gewesen - mich verfolgt und bewegt haben, ohne dass es mir wirklich klar war - einschneidende Begegnungen, Erlebnisse mit Kunstmaterial, Musikstücken, Bildern, Filmen etc. Am Anfang war die Idee, dass man für jede Episode einen Anlass nimmt oder ein Einzelobjekt. Jetzt sind Pakete daraus geworden - ich sag mal vorsichtig – Pakete von „Artefakten“, gewissermassen Themenpakete, die über einen längeren Zeitraum in wechselnden Formen und Formaten nacheinander aufgetaucht sind, die sich aber rückblickend irgendwie subsumieren lassen, unter gewissen Oberbegriffen. Um diese Pakete haben wir das Bewegungsvokabular entwickelt.

Kannst du Beispiele sagen?

Nicht so ganz gern, aber gut. Ein Beispiel wäre: das Feld zwischen Zivilisation und Wildnis, Evolution, aber auch De.volution oder Regression. Da gab es bereits ein Stück dazu: „Darwin Waltzes“ z.B. hat das im Titel drin. Ist sehr lange her. Das Unbehauste, das Wilde, und die Zivilisation. Eine ganze Reihe von Filmen dazu habe ich immer wieder angeschaut z.B. „Der Wolfsjunge“ von Truffaut, oder Kaspar Hauser, „Into the Wild“, „Planet der Affen“, oder dieser tolle Film „Wild“ von einer ostdeutschen Regisseurin (Nicolette Krebitz, Anmerkung der Redaktion): Eine Frau in Halle in einer Plattensiedlung irgendwo am Waldrand, sie kommt nach Hause und sieht da einen Wolf stehen, dann verguckt sie sich irgendwie in das Tier; irgendwann wohnt der Wolf bei ihr in der Wohnung und sie verwildert dort. Ausgangspunkt für dieses Paket waren allerdings diese Kinder, die angeblich oder tatsächlich von Tieren aufgezogen wurden; darum hat sich immer mehr angesammelt. so ist da ein ganzes Paket draus geworden, was mit Kreatürlichkeit, Zivilisation, Kultivierung etc. zu tun hat.

Und aus diesen Hintergrundpaketen speist sich ja dann das Bewegungsmaterial. Bis auf Hikaru haben alle aus dem Team schon mit dir gearbeitet. Die wissen also schon, wie der Hase läuft?

Eigentlich weiss man nie, wie der Hase läuft. Hasen schlagen Haken! Vielleicht ist es für jemand von außen das Gleiche, aber für mich ist es das nicht, und ich glaube auch nicht für die Tänzer. Mehr als sonst versuchen wir diesmal das notorische, schickliche Tanzvokabular zu vermeiden - ist alles nah an den Sachen, die wir mit Dance Energy gemacht haben.

Im letzten Stück „rats in the living room“, gab es eine Nähe zum filmischen Personal: Das am Türstock lehnen und dann diese Gleichzeitigkeiten, die Bildhaftigkeit, die es hatte und die Räumlichkeit.

Das ist aber anders jetzt. Deswegen hab ich das auch mit dem Monolith geschrieben, es ist eigentlich ein Begehen, eine Aktion, ohne Entwicklung, ein Event. Am Schluss könnte es sein, dass man ein paar Sprachfetzen von den Songs hört, die im Hintergrund präsent waren, und die quasi wie so ein Resümee sind, letztendlich irgendwie ein Rückblick. Wobei ich es eher als Aktivierung empfinde.

Die Frage ist ja, wie man Zeit begreift. Ob es eine Linearität hat, oder ob es gleichzeitige Schichten gibt, und du bist dir anderer Schichten bewusst, das ist ja das Aufspüren der eigenen Gestaltungsprozesse.

Ja und der Wahrnehmungsprozesse. Beides. Ich glaub schon, dass jede/jeder gewisse Sachen hat, die einen einfach umtreiben, und in die ist man reingewachsen. So war ich froh, dass mir das mit den „patterns“ eingefallen ist, weil sich da natürlich über kurz oder lang Vorlieben und Wahrnehmungs- und Gestaltungsmuster herausschälen. Man kann aktiv versuchen, das immer wieder zu brechen, klar, versucht man ja auch dauernd, aber das verhindert nicht, dass sich die Muster bilden und aktivierbar bleiben.

Es gibt ja dann immer noch ein Interesse in dir, dem weiter nachzugehen.

Beispiel: eine der ersten Sachen für dieses Paket mit den Wilden Kindern, mit dem Wolfsjungen, etc. ist tatsächlich ein Film, den ich mit sieben Jahren im Kino gesehen habe: „Der weisse Hengst“, spielt in der Camargue, wo es wilde Pferde gibt und da ist ein kleiner Junge, der freundet sich mit einem der Pferde an, der Film hört damit auf, dass er mit dem Pferd ins Wasser reitet und davon schwimmt. Und das hat mich völlig zerwaffelt damals. Man weiß nicht, kommen sie irgendwo an oder gehen sie unter. Das Tier und er Junge waren so innig miteinander, es war sehr berührend. Dieses „leaving civilisation“ ist etwas, das mir dauernd wieder hochkommt, auch z.B. bei den Oberflächen, ich hab ja ein Faible für geplatzte Oberflächen,... quasi der Firnis der Zivilisation oder eben „Contenance“, das war auch ein Thema bei der Choreographie. Auch bei Darwin Waltzes damals war das implizites Thema: der Walzer einerseits ein Ausdruck von Delirium, aber halt ein Delirium mit Contenance. Für uns war das Bewegungsvokabular mit dem wir damals angetreten sind, schon vergleichsweise wild, das hat man damals nicht so gemacht. Man ist sich nicht angesprungen und man ist auch nicht so viel über den Fußboden gerollert.

Braucht das Publikum das Wissen zu deinen Hintergründen zur Rezeption?

Nein, überhaupt nicht. Mir geht es nie um das Nachbuchstabieren eines Konzepts. Konzepte sind Arbeitsgrundlagen, aber entscheidend sind ja die Formulierungen, die durch sie gefunden werden bzw. ob die dann für die Zusehenden bedeutsam werden können. Der „Inhalt“ entsteht im persönlichen Erleben von Individuen.

Das Gespräch führte Beate Zeller.


“episodes of glam + gutter” findet von 12. − 14. Januar 2024 um 20:00 im schwere reiter statt: INFO

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